P. Roth: Der Panathenaikos des Isokrates

Cover
Titel
Der Panathenaikos des Isokrates. Übersetzung und Kommentar


Autor(en)
Roth, Peter
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 196
Erschienen
München 2003: K.G. Saur
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Walter, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Das geringe gelehrte Interesse, das dem athenischen Rhetoriklehrer und Publizisten Isokrates (436-338 v.Chr.) lange Zeit zuteil geworden ist, hing zweifellos mit dem ungünstigen Urteil über diesen Autor zusammen, zumal im Vergleich mit den Zeitgenossen Platon und Demosthenes. Ob sich dieser Zusammenhang aufgelöst hat, ist schwer zu sagen; jedenfalls hat Isokrates in der letzten Dekade eine beachtliche wissenschaftliche Renaissance erfahren. Diese drückt sich in einer Reihe von Monografien und Sammelbänden aus; doch auch für die Grundlegung weiterer Arbeit ist durch eine neue Textausgabe und Übersetzungen in mehrere Sprachen gesorgt, während höheren Anforderungen genügende Kommentare zu den einzelnen Schriften immer noch Mangelware sind.1

Peter Roth hat sich für seine gräzistische Habilitationsschrift (Regensburg 1998) das späteste und längste Werk des Isokrates vorgenommen: den "Panathenaikos". Nun bietet diese in der Forschung wenig geschätzte, oft sogar herablassend abqualifizierte Abhandlung dem an Politik-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte interessierten Historiker in der Tat wenig, was nicht schon in den früheren Schriften dieses Zeitgenossen der Krise der griechischen Poliswelt zu finden wäre, etwa im "Panegyrikos", im "Philippos", im "Areopagitikos", in der "Friedensrede" und der autobiografischen "Antidosis". Auf den ersten Blick scheint der hochbetagte Lehrer und Publizist, der den Text nach eigenem Bekunden mit 94 Jahren begann und nach krankheitsbedingter Unterbrechung ein Jahr vor seinem Tod vollendete, nicht mehr als eine ungefüge Reprise der um 380 verfassten und unter dem Titel "Panegyrikos" verbreiteten Preisrede auf seine Vaterstadt Athen zustande bekommen zu haben; allenfalls die ausführliche Polemik gegen Sparta und noch mehr gegen seine Bewunderer brachte einen neuen Akzent, der jedoch zumindest für die historisch-politische Interpretationsrichtung in der Luft hing, da Sparta zum Zeitpunkt der Vollendung der Rede so unbedeutend geworden war, dass seine Weigerung, am Korinthischen Bund teilzunehmen, bei den neuen Herren der Hellenen nur noch Spott auslöste.

Doch bei aller politisch-historischen Unerheblichkeit bildet der "Panathenaikos" auf seine Weise ein hochinteressantes Textexperiment am Ende der langen Auseinandersetzung des Isokrates zumal mit Platon um den Charakter der wahren Philosophie und der besten Ausbildung. War Platon - stark vereinfacht gesagt - davon überzeugt gewesen, dass die Verschriftlichung von Lehre überhaupt und zumal in der Form eines linear argumentierenden Traktats der Anregung von Schülern und Publikum zum eigenen Denken schädlich sei und dass allein der Dialog durch seine Offenheit die Möglichkeit zu dauernder Korrektur biete und daher zu wahrer Erkenntnis und besserem Menschsein führe, so verteidigte Isokrates seine "rhetorische" Vorstellung vom zusammenhängenden und wohlgeformt wirkenden Wort, indem er dieses um eine Dialogszene im Schülerkreis erweiterte und die traditionelle Form auf diese Weise exemplarisch in eine diskursive Praxis der Auseinandersetzung und der Aneignung durch lesende Rezipienten, wenn diese nur "Zeit zum gemeinsamen Studium finden" (§ 251), einbettete.2 Durch diese Verbindung von Rede und Dialog unternahm er es, "eine Rede zu verfassen, die in nichts den anderen gleiche, sondern den oberflächlichen Lesern einfach und leicht verständlich vorkommen würde, denen aber, die sie sorgfältig durchgingen und das zu bemerken versuchten, was sich den anderen verborgen habe, schwierig und nicht leicht verständlich erscheinen würde" (§ 246).

Angesichts einer unbefriedigenden Forschungslage hat sich Roth die Aufgabe gestellt, in einem den einzelnen Sinnabschnitten folgenden, nicht lemmatisch angelegten Kommentar "überall den Gedankengang möglichst exakt nachzuzeichnen und die Überlegungen zu rekonstruieren, die Isokrates bewogen, so und nicht anders zu formulieren" (S. 16), wobei durchgängig auf dessen frühere Schriften sowie Platon, vor allem den "Phaidros", Bezug genommen wird. Ziele und Methoden sind also traditionell-philologisch: ein genaues Textverstehen und das Ermitteln der Autorintention. Diese sieht Roth in Isokrates' Auseinandersetzung mit Platon und dessen Schule, der Akademie, über den besten Weg zu einer relevanten, d.h. pädagogisch wirksamen Erkenntnis (s.o.): Der nach mehrmaliger Überarbeitung sehr komplexe Text des "Panathenaikos", erweitert um die Dialogszene, die gleichsam eine Kontrastimme imaginiere und mit dem Hinweis des Schülers auf einen verborgenen Subtext die glatte Oberfläche der Argumentation aufbreche, sollte als Muster für den richtigen und produktiven Umgang mit Texten dieser Art gelten und so die über ein langes Leben hin entwickelte Lehrmethode des Isokrates gegenüber der offenen, jederzeit zur Rechenschaft und Korrektur fähigen mündlichen Lehrmethode der Akademie als mindestens ebenbürtig erweisen.3

Die Einleitung (S. 9-18) orientiert über die Hauptprobleme für das Verständnis der Schrift und die Ansichten der früheren Forscher; die Kenntnis des weiteren Rahmens, etwa der Biografie des Verfassers, des allgemeinhistorischen und des intellektuellen Kontextes oder der Entwicklung der Lobrede auf Athen und Isokrates' Beitrag dazu, wird dagegen vorausgesetzt. Es folgen eine eigens angefertigte Übersetzung der 272 Paragrafen des "Panathenaikos" (S. 21-66), eine sehr nützliche Übersicht zur Gliederung des Textes (S. 69-70) und als Hauptstück der Kommentar (S. 71-269). Drei Appendices (S. 273-283), das Literaturverzeichnis (S. 285-292) sowie vier Indices (S. 293-310) beschließen das sorgfältig hergestellte Buch. Vermisst wird eine Zusammenfassung, in der Roth seine Interpretation knapp skizziert und die erzielten Erkenntnisforschritte benannt hätte. Wenn seine Deutung zutrifft4, markiert der in vielem so unbefriedigende Text des "Panathenaikos" einen großen Moment: Isokrates erweist Platon in beider Ringen um eine philosophische Begründung von Rhetorik und Pädagogik seine Reverenz, indem er - lange nach dem Tod des Kontrahenten - dessen Methode der doppeldeutigen, "amphibolischen" und daher offenen Rede in seine eigene Lehrpraxis zu integrieren sucht 5 und zugleich als 97-Jähriger den Stab mit der Aufforderung zur Diskussion an seine Schüler weitergibt. Lernende durch eine diskursive Auseinandersetzung mit gehaltvollen Texten zu befähigen, selbst solche zu verfassen, stellt - diese weiterführende Einsicht lässt sich auch dem gehaltvollen Buch von Roth entnehmen - den wohl größten Beitrag des Isokrates zur europäischen Bildungsgeschichte dar - und weit mehr als nur eine Ergänzung der Methode des sokratischen Gesprächs.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Angaben bei Orth, Wolfgang, Perspektiven der gegenwärtigen Isokrates-Rezeption, in: Ders. (Hg.), Isokrates. Neue Ansätze zur Bewertung eines politischen Schriftstellers (Europäische und Internationale Studien 2), Trier 2003, S. 1-6; Textausgabe: Isocrates, Opera omnia, hrsg. v. Mandilaras, B. G., 3 Bde., München 2003; Übersetzung: Isokrates, Sämtliche Werke. Übersetzt von Ley-Hutton, Chr., 2 Bde., Stuttgart 1993/1998; neuere Kommentare: Isocrates, Panegyricus and To Nicocles, ed. with a translation by Usher, S. (Greek Orators 3), Warminster 1990; Livingstone, N., A Commentary on Isocrates' Busiris, Leiden 2001; Zajonz, Sandra, Isokrates' Enkomion auf Helena: ein Kommentar (Hypomnemata 139), Göttingen 2002.
2 Vgl. dazu Usener, Sylvia, Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser von Literatur im 4. Jahrhundert v.Chr., Tübingen 1994 (dazu Rez., Gymnasium (103) 1996, 259-262); Roth, Peter, Die Dialogszene im 'Panathenaikos', in: Orth (wie Anm. 1), S. 140-149.
3 Platons Argument ist sehr klar in Phaidr. 275d7-e5 formuliert: "Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll, und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande" (Übers.: F. Schleiermacher; vgl. Roth, S. 256).
4 Eher skeptisch ist Tony Natoli in seiner Rezension, Bryn Mawr Classical Review 2004.10.32 (http://ccat.sas.upenn.edu/bmcr/2004/2004-10-32.html).
5 Roth (wie Anm. 2), S. 149, bezeichnet den Versuch im "Panathenaikos" indes als gescheitert.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension